Koalas unter sich

Wahlprogramme sind nicht für Koalitionen geschrieben. Zumindest nicht offiziell. Und da es in Deutschland ein Wahlsystem gibt, was weder ein Zweiparteiensystem befördert noch eine daraus resultierende Ein-Partei-Regierung, reibt sich der ermattete Wahlkämpfer am Morgen nach der Wahl immer die Augen und schaut sich um. Sondierungen heißt das. Was geht mit wem wie weit und zu welchem Preis. Was kann man aus dem eigenen Programm opfern, was muss unbedingt durch von den eigenen Forderungen. Hat man erste Schnittmengen und Anknüpfungspunkte ausgelotet steigt man ein in die Verhandlungen. Zwei (oder auch mehr) Wahlprogramme, Stimmen und Stimmungen von zehntausenden Mitgliedern und Millionen WählerInnen gilt es passgenau zu aggregieren in einen „Vertrag“ (alleine über die Bindekraft dieses unterschriebenen Wischs ließe sich viel schreiben, ich gehe einmal davon aus: Er bindet die Parteien). Eine Mammutaufgabe, bei der die Weichen der künfitgen Politik gestellt werden – inhaltlich wie personell. Eigentlich ein Schauplatz der Demokratie: Frauen und Männer, gewählt durch eine Mehrheit, im Austausch von Standpunkten, welche die allgemeinen Belange der Bevölkerung betreffen. Aber passiert mit steter Regelmäßigkeit: Die Türen fliegen zu.

Momentan zu beobachten in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg. Ob Grün-Rot oder Rot-Grün (bei den Schwarzen und Gelben nicht besser oder schlechter) tagen die großen Verhandlungsrunden an geheimen Orten, wird Stillschweigen vereinbart und nur spärlich informiert. Erklärlich auch daher der Rückgang von Blogeinträgen, Meldungen und Twitter-Mitteilungen aus Parteien und von Personen. Zwar werden die Ergebnisse der großen Verhandlungsrunden präsentiert, was aber in den unzähligen Fachgruppen passiert (und wer dort überhaupt Mitglied bzw. GastrednerIn ist) dringt selten in Kameras oder Mikrofone. Man muss schon einen guten Draht nach Stuttgart oder Mainz haben um zu Erfahren, wie die Positionen sind, und welche Vorschläge in die große Verhandlungsdiskussion eingebracht werden. Ein bürgerfernes, unschönes Verfahren, bei dem Politik in Hinterräumen gemacht wird und Gerüchte und Fehlinformationen vorprogrammiert sind. Eine Win-Win Situation für Parteien, WählerInnen und Demokratie? Mitnichten!

Natürlich verschließe auch ich nicht die Augen von der Notwendigkeit vertrauensvoller und in der Folge geheimer (vom Inhalt her!) Treffen. Aber dass es auch anders geht zeigen die Parteien selbst: Wahlprogramme entstehen nicht im Hinterzimmer, sondern im freien, offenen Austausch der Mitglieder. Jeder kann sich einbringen, jedem sind die Dokumente zugänglich. Warum kann nicht auch eine Koalitionsverhandlung offen und transparent sein? Warum wird eine Schlichtung bei einem hochsensiblen Thema wie S21 im Fernsehen (bei besten Quoten!) übertragen, während Inhaltsschlichtung zwischen Parteien in den Wochen nach der Wahl nur im Rahmen von offiziellen, abgestimmten Interviews und Pressekonferenzen präsent ist. Oft bleibt der Eindruck hängen, dass es sich bei der ganzen Inszenierung der Koalitionsverhandlungen um Selbstschutzmechanismen für Parteien handelt: Niemand will sein wahres Gesicht nach außen tragen, innere Kontroversen den Blicken der WählerInnen öffnen, Personalklüngelei und Proporzdenken öffentlich diskutiert sehen. Das Ergebnis davon lässt sich dieser Tage wieder eindrucksvoll bewundern: Da niemand etwas weiß, wissen viele alles. Gerüchte über Inhalte, Namen, Konfliktthemen säumen die Blätter und bewirken dass sich die WählerInnen und Wähler schon drei Wochen nach dem Urnengang fragen, ob ihre Wahl richtig war. Der Vorteil von mehr Transparenz und Offenheit läge auf der Hand: Nicht in erster Linie Machtinteressen bestimmten das Feld, sondern argumentative Elemente. Unterschiede werden sichtbar, aber Ehrlichkeit und Standhaftigkeit bei Parteien und Personen wird gefördert. Dies ist gefordert, denn in erster Linie erwartet der Wähler eine Vertretung der im Wahlkampf propagierten Forderungen und eben kein Hin- und Herschieben der Inhalte wie auf einem Güterbahnhof. Und zu guter Letzt gewinnt die Demokratie, wenn Bürgerinnen und Bürger ihre Prozesse live und transparent miterleben können, und begreifen, dass das Schlüsselement unserer Staatsform letztlich der von allen Seiten getragene und sinnvolle Konsens ist.

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