Hin und Weg! Oder: Mobilität in Hongkong

Manchmal kommen Nachrichten zu kurz. Die Headline kurz und Prägnant, im Text das wichtigste auf wenigen Zeilen verstaut – herausgekommen ist mal wieder ein Produkt eines Fließbandjournalismus, der Agenturmeldungen von Praktikanten zu kleinen Aufmerksamkeitsspot verwurstet. Dabei bleibt leider die Aussage der eigentlichen Quelle auf der Strecke, oft kommen gar ganz neue Schlussfolgerungen und Ergebnisse zu tage. Ein beliebtes Opfer sollen bekanntlich Statistiken sein. Ich gebe zu eine englischsprachige, 120-Seiten-Studie zusammenzufassen und die Hauptargumente herauszuarbeiten gehört nicht zu den Dingen, welche man in der Grundschule lernt. Doch sollte bitte im Sinne des Anspruchs doch ein wenig mehr auf Inhalt und weniger auf Rahmen gelegt werden.

Doch Schluss an dieser Stelle mit diesen wehleidigen Präliminarien, zur Sache: In deutschen Medien war vergangene Woche zu Lesen, dass es München mal wieder geschafft hat. Auch der FC Bayern hat wieder gewonnen (glücklich!), aber diesmal verliehen sie der Landeshauptstadt den Titel der am besten Vernetzten Stadt in Deutschland. München punkte damit, dass Verkehrsteilnehmer schneller ans Ziel kommen als in jeder anderen deutschen Großstadt. Weltweit landete die Stadt auf Platz neun. Bravo! Diese kurze Schlagzeile – zu finden beispielsweise in der Welt, im Focus, bei SPON oder der Wirtschaftswoche – wäre als unnützes Wissen in meinem Gedächtnis haften geblieben, jedoch erregte der weltweite Erstplatzierte meine Aufmerksamkeit: Hongkong soll nach der Studie der Unternehmensberatung Arthur D. Little (ADL) am besten vernetzt sein. Da ich bereits seit ein paar Wochen hier lebe, den ÖPNV wenn nicht täglich, dann doch mehrmals pro Woche nutze und auch langjährige Erfahrungen als Schulpendler in Deutschland habe, musste ich diesem für mich sehr merkwürdig vorkommendem Ergebnis auf die Spur gehen. Mein Gefühl sagte mir, dass ich in Hong Kong nicht kürzer und stressfreier von A nach B oder X komme als in einer deutschen Mittel- bis Großstadt. War mein Eindruck falsch, die Redakteure zu faul oder die Studie einfach nur von der Hongkonger Finanzbranche bezahlt? Ein Blick in die Studie genügte, um mein Urteil zu fällen: Auch die Redakteure hätten diesen Blick etwas länger auf den Ergebnissen verweilen lassen sollen.

Überraschung gleich zu Anfang: Die Studie ist nicht nur eine Bestandsaufnahme der Vernetzung und er Mobilität in 66 Städten weltweit, sondern will unter dem Titel „The Future of Urban Mobility – Towards networked, multimodal cities of 2050“ Handlungsanweisungen und Entwicklungspotentiale für Städte mit verschiedenem Background geben. Wo bekommt man heute schon mehr, als man aus der Werbung erwartet – jeder sollte Studien beginnen zu lesen! Die Herausforderungen für die Zukunft bis 2050: Mobilitätskonzepte entwickeln, die mit dem Zuwachs von urbaner Bevölkerung zurechtkommen (von 3,5 Milliarden Menschen heute auf 6,4 Milliarden 2050), dabei die Reisezeit nicht verdreifachen, sondern verringern und bei alledem noch sicher und vor allem umweltfreundlich sind. Bereits heute stoßen Städte überall auf der Welt an ihre Grenzen: Nahverkehr ist in vielen indischen Städten nicht existent, Versuche verstopfte Städte durch Maut oder andere Restriktionen frei vom Stau zu bekommen fruchten nicht überall, immer noch dominiert der Individualverkehr und werden U-Bahnen ohne großen Masterplan gebaut. Wo stehen wir heute, welchen Weg oder welche Wege sind zu gehen, wo kann man von positiven Beispielen lernen, um in 40 Jahren nicht am Verkehrsinfarkt mit all seinen Nebenwirkungen zu erliegen?

Ich will nicht zu lange elaborieren, jedoch muss kurz das Forschungsdesign vorgestellt werden, damit Stärken, Schwächen und Potentiale genauer herausgearbeitet werden können. Die Autoren bilden einen Index aus verschiedenen Variablen, jede unterschiedlich gewichtet. Insgesamt gibt es 100 Punkte zu vergeben, wobei 100 den Maximalwert darstellt. Sie messen dabei unter andere:

  • Anteil von öffentlichen Verkehr, Radfahren, Fußgänger am Gesamtverkehr (7,5 Punkte)
  • Mobilitätsstrategie (10 Punkte)
  • Car Sharing (5 Punkte)
  • Anzahl an leihbaren Fahrrädern pro Millionen Einwohner (5 Punkte)
  • Verbreitung von smart cards, d.h. intelligenten Transportbezahlsystemen (5 Punkte)
  • Todesfälle im Verkehr pro Millionen Einwohner (15 Punkte)
  • Transportabhängige CO2-Emissionen in kg pro Kopf (15 Punkte)
  • Fahrzeuge pro Person (7,5 Punkte)
  • Durchschnittsgeschwindigkeit (7,5 Punkte)
  • Zufriedenheit mit Transport (15 Punkte)
  • Mittlere Transportgeschwindigkeit zur Arbeit (7,5 Punkte)

Natürlich kann man an dieser – wie immer bei einem Forschungsdesign – Kritik üben: So sagen 10 000 leihbare Fahrräder noch nichts darüber aus, ob ein System erfolgreich implementiert wurde und von allen Gruppen gleichermaßen angenommen wird. Gleiches gilt beim Carsharing. Genauso ist nicht klar, welche Experten befragt wurden, um die Zufriedenheit mit dem ÖPNV zu ermitteln. Natürlich kann man auch fehlende Faktoren bemängeln, z.B. die Dichte des U- und S-Bahn-Netzes, Radwegenetz etc. Es scheint, als ob diese Studie sehr auf das Auto fokussiert ist und dabei den Nahverkehr auf Rad und Schiene etwas außen vor lässt. Von großer Kritik sehe ich aber ab, will aber  das Bewusstsein wecken  kritisch mit gerade diesen Fragen umzugehen.

Im ersten Schritt entwickelten die Autoren ein Cluster verschiedener Städte in verschiedenen Erdteilen und stuften sie bereits in grobe Überkategorien (benannt nach für bestimmte Mobilitätsverhalten charakteristischen Städten) ein. Unter Anwendung der oben genannten Kriterien ergibt sich bei den 66 weltweit getesteten Städten folgendes Bild: Wie bereits gesagt belegt Hongkong die Spitzenposition, gefolgt von europäischen Städten mit Ausnahme von Singapur und Boston. Generell ist eher eine schlechte Performance der getesteten Städte festzustellen: Bei einem Durchschnitt von 64,4 liegen die meisten Städte , vor allem im südostasiatischen Raum unter – oft krass – darunter.

Als letztes will ich kurz auf den augenscheinlichen Musterschüler Hongkong eingehen. Das oben angesprochene Städtecluster wartet mit dem „Hong Kong type“ auf, dem u.a. auch New York, Moskau, London oder Paris zugeordnet sind und der sich durch ein großes öffentliches ausgereiftes Konzept auszeichnet. Die Ergebnisse bestätigen diese grobe Beschreibung: Ein großer Teil des Verkehrs wird in Öffentlichen Verkehrsmitteln zurückgelegt (92 %) und tatsächlich gilt die Hongkonger MTR als eines der besten U-Bahnsysteme der Welt. Der Vorteil an Hongkong besteht darin, dass die Bevölkerung sich auf aufgrund der schwierigen hügeligen Topographie auf einige Spots im Stadtgebiet verteilt. Große Bereiche sind weitgehend unbewohnt, während an manchen Küstenstreifen ein Wohnturm an den andern sich drängt. So muss ein Nahverkehrssystem nur diese Spots verbinden, aber nicht in die Breite gehen, wie dies bspw. in Beijing der Fall ist. Dennoch ist das Optimum auch in Hongkong noch nicht erreicht: Oft muss umgestiegen werden (wenn auch das Umsteigen intelligent gelöst nur daraus besteht auf den gegenüberliegenden Bahnsteig zu gehen und dort in eine andere Linie zu wechseln), einen Ring ähnlich wie in Berlin gibt es nicht. Die schwarzen Flecken auf der Karte deckt das engmaschige Netz an Bussen ab: Oft hat man den Eindruck es gibt mehr Doppeldecker als Autos (exklusive die roten Old-School-Toyota-Taxis), dazu gibt es noch kleine Omnibusse, die besonders in der Nacht beliebt sind. Verwirrend ist nur, dass der Busverkehr anders als die U-Bahn nicht von einer, sondern zwei Unternehmen dominiert wird. Die Folge: Ein Punkt, zwei Haltestelle, Doppelbelegungen der Nummern, Verwirrung über Start- und Endpunkt einer Linie. Eine zentrale Seite, die das Busnetz kombiniert gibt es nicht, d.h. Busfahren in Hongkong setzt Planung oder genaues Studium der Fahrpläne voraus. Ein Car Sharing System ist mit bisweilen noch nicht vor die Augen gekommen, genauso wenig wie ein Fahrradleihsystem. Zwar habe ich das Gefühl, dass das Fahrrad immer mehr Freunde gewinnt (vor allem fancy Klappräder mit bunten, blinkenden LEDs), aber eher für die Freizeit, als für den Weg zum Einkauf, Sportplatz oder Arbeit. Ein wirklicher Stein im Brett ist die Octopus-Karte, von der sich viele Städte eine Idee abschneiden könnten. Eine kleine Plastikkarte auf die ohne Probleme bei jeder MTR-Station und in jedem der Millionen 7/Eleven-Stores Geld eingezahlt werden kann. Überziehen gibt es nicht. Beim Einstieg in den Bus wird kontaktlos der Betrag abgebucht, genauso in der MTR, wo sie bei Reisebeginn und an der Endstation auf einen Leser gedrückt werden muss. Man zahlt, was man wirklich fährt – und nicht wie in Deutschland oft für Waben, die man nur zu fünf Prozent nutzt oder für Tagestickets, mit denen man nur zwei Stunden unterwegs ist. Neben ÖPNV kann man mit der Octopus-Card auch in vielen Geschäften in ganz Hongkong bequem, sicher und anonym bezahlen. Kein Wunder, dass – so die Statistik – jeder Hongkonger mehr als eine besitzt ( auch ich habe zwei davon muss ich zugeben). Die anderen Werte des Rankings sollen unerwähnt bleiben, jedoch zeigt sich, dass obwohl Hong Kong eine gute bis sehr gute Performance hat in vielen Bereichen noch ordentlich Luft nach oben ist. Der Individualtransport muss weiter zurückgefahren werden, öffentliche Verkehrsmittel (und vor allem die Taxis) müssen auf umweltfreundliche Antriebe umgerüstet oder weiterentwickelt werden, damit die versmogte Luft in Central und Kowloon endlich der Vergangenheit angehört.Der leichte Trend zum Fahrrad sollte nicht gestoppt, sondern gefördert werden: Noch immer gibt es keine Radwege in den zentralen Bezirken, gibt es Fahrradwege nur in den leichtbesiedelten Lagen zum Sonntagsvergnügen. Die letzte Policy Adress des amtierenden Chief Executive Donald Tsang nahm dies auf, und es scheint als ob die Luftverschmutzung weiterer Treiber von Investitionen in den Nahverkehr in Hongkong sein könnte. Hongkong ist vielleicht die leading city, aber es ist anders als die deutschen Artikel weismachen wollen nicht dadurch, dass man in hier unbedingt schneller vorankommt. Investitionen, Pläne, ein funktionierend genial einfaches Bezahlsystem sind die Grundlagen dieses Titels. In manch anderen hat sie aber noch gewaltige Luft nach oben.

Wer mehr von der Studie wissen will, vor allem über die Zukunftskonzepte, die die Autoren entwickeln: Zu Lesen gibt es sie hier.

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