Wandern in Hong Kong, oder: Eine Stufe ist eine zuviel

Letztlich habe ich sie dann doch noch bezwungen. Ich habe mir die Zwillinge bis zum Schluss aufgehoben – doch da haben sie mir mehr Konter gegeben, als ich anfangs gedacht habe. Meine beiden Gegner am Sonntag – the Twins – sind über 360 Meter hoch und liegen im Süd-Osten von Hongkong-Island nahe Stanley mit seinem bei Touristen beliebten Market am Meer. Nach fast drei Stunden Wanderung auf mehr oder weniger befestigten Wegen kam ich am Fuße der beiden an. Und rechnete nicht, welche Qualen auf mich zukommen würden: Unzählige Stufen ging es nahezu gerade nach oben. Wenn mal eine Kurve im Betongeflecht war, hoffte ich vergeblich auf ein Ende der Treppe dahinter. Besonders martialisch sind neben den ungewöhnlich hohen Stufen die Flächen zwischen einzelnen Treppenabschnitten: Wer denkt, dort kann er sich drei Schritte im ebenen Lauf erholen wird enttäuscht, denn auch diese zeigen ihre fiesen Neigungen dem mittlerweile dreimal durchgeschwitzten Wanderer nur allzu gerne. Aber umso triumphaler steht man dann auf dem Gipfel, nur um zu sehen, dass es bis zum zweiten der Zwillinge nochmal ein Abstieg und ein langer, treppenverzierter Aufstieg ist. Das Spiel geht von vorne los.

Das Wandern in Hong Kong überhaupt möglich mag von Außen betrachtet schon erstaunen. Wo soll bei den Hochhäusern noch Platz für Berge, Landschaftsparks, Wald und Wanderrouten sein? Doch nur 30 Prozent der Fläche – Hong Kong ist ungefähr so groß wie Bremen und Hamburg zusammen, etwas größer als Berlin und etwa die halbe Größe  des Saarlandes – sind bebaut, dafür aber umso gewaltiger. Denn auf dieser urbanisierten Fläche – ca. zweieinhalb Mal Mannheim oder einmal Köln – leben sieben bis acht Millionen Menschen. Diese Bevölkerungsdichte ist in der Welt ziemliche Spitze. Was die Wohnfläche niedrig, die Preise hoch und die Wohntürme noch riesiger macht, ist vor allem für Wanderer purer Luxus. Viel Platz zum Wandern, aber auch Radfahrer habe ich gesichtet. Die Abfahrten von den Bergen hin zu Meer und Strand hatten fast was von Mallorca. In kurzer Zeit ist von der Hektik in Central, wo die Türme der HSBC oder der Bank of China in die Höhe wachsen inmitten von Grün und hört anstatt Menschenmassen und Doppeldeckermotoren nur noch das überall plätschernde Wasser und die über einem schwebenden Vögel.

Dem verbreiteten Vorurteil, dass Hong Konger Wanderwege europäischen Bürgersteigen ähneln (wobei Pflaster durch Beton – das Allheilmittel – ersetzt wurde) muss ich entschieden entgegentreten: Zwar führte mich der erste Abschnitt meiner Wanderung auf genau solch einem Untergrund an der Küste entlang, jedoch wurde es später sehr viel erdiger, schmaler und rutschiger. Mit Flip-Flops sollte man daher nicht auf Wandertour gehen, sondern sie an der MTR-Station gegen ein paar gute Lauf- oder Wanderschuhe eintauschen. Außerdem empfehlenswert sind eine Menge Wasser und gute Wanderkarten Die Hauptwanderwege in Hong Kong, sechs an der Zahl, sind alle sehr gut ausgeschildert: Alle 500 Meter befinden sich Entfernungspfähle am Wegesrand und am Ende jeder Sektion bekommt man auf einer großen Übersichtskarte einen Hinweis darauf, wo man eigentlich gerade hingewandert ist oder wie man schnell einen Bus wieder nach Hause bekommt. Weiter geht’s aber, vorbei an Wasserauffang-Kanälen, die das Wasser der Berge auffangen, bevor es ins Meer läuft und es in die zahlreichen Reservoirs zur Trinkwassergewinnung führen, an Tempeln, alten Kolonialbauwerken, Staumauern und vielem mehr. Aber das schönste dabei ist sich in einer Großstadt zu wissen, aber um sich nur Berge mit sattem Grün zu sehen. Beim Ausblick auf diese Landschaft – egal ob von den Höhen oder aus der Froschperspektive – vergisst man die Strapazen, die man durch nicht enden wollende Treppen und matschig-rutschige Trampelpfade erlitten hat. Und man will schnell wieder aufbrechen auf neue Pfade.

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